Reichenbach/Westsachsen.- Der umstrittene quecksilberhaltige Zahn-Füllstoff Amalgam soll eigentlich bis 2030 verschwinden. Sächsische Zahnärzte wollen ihn
aber weiter einsetzen. Betroffene Patienten, gesundheitlich Geschädigte und Selbsthilfegruppen laufen dagegen Sturm. Für Ina Schiffler, die Leiterin der SHG Zahnmaterial-Geschädigte in
Reichenbach (Foto unten), ist die derzeitige Praxis ein Unding. Sie ist selbst von den gesundheitsschädlichen Auswirkungen der Füllungen betroffen und sagt: „Die Befürworter dieser giftigen
Substanz muss man immer gleich fragen, wie viel sie denn davon selbst im Mund haben, wenn sie es so gut finden. Quecksilber ist eines der schlimmsten Gifte und es hat deshalb im Körper des
Menschen nichts zu suchen.“
Bereits seit Juli letzten Jahres bekommen Schwangere, Stillende, Kinder bis zum 15. Lebensjahr sowie Nierenkranke und Allergiker keine quecksilberhaltigen Zahnfüllungen mehr. Alle anderen müssen
für Kunststofffüllungen privat zuzahlen. „Das können bis zu 100 Euro pro Füllung sein, bei Keramik- oder Goldinlays sogar noch weit mehr", sagt Dr. Holger Weißig, Chef der Kassenzahnärztlichen
Vereinigung (KZV) Sachsen. „Hätten wir ein generelles Amalgamverbot, müssten die Mehrkosten für Alternativen von den Kassen getragen werden. Das könnte sich auch auf die Beiträge
auswirken.“
Florian Schulze, Geschäftsführer der IG Umwelt und Zahnmedizin, kritisiert die Zurückhaltung der Bundesregierung. „Es wurde weder ein Zeitpunkt für den
Amalgamausstieg festgelegt, noch eine konkrete Maßnahme dafür beschlossen, wie man den Einsatz von Amalgam auf unverzichtbare Spezialfälle beschränken möchte.“ Schulze bezeichnet Quecksilber als
eines der giftigsten Elemente der Erde. Geringste Mengen könnten bereits schwerwiegende Gesundheitsschäden nach sich ziehen. „Wenn die meisten quecksilberhaltigen Produkte wie Batterien, Lampen
oder Thermometer ab 2020 verboten werden, sollte bei Amalgamfüllungen keine Ausnahme gemacht werden“, sagt er.
Quecksilber ist ein Zell- und Nervengift, das sich nicht nur im Kiefer, sondern auch in Nieren, Gehirn und Gelenken ablagern kann. Deshalb soll Amalgam bis 2030 aus der Zahnmedizin verschwinden.
Allerdings weniger aus gesundheitlichen, sondern aus Umweltschutzgründen.
Für Ina Schiffler der blanke Hohn: „Ich sehe darin nach wie vor eine vorsätzliche Körperverletzung. Es geht immer nur ums Geld. Für die einfache Bevölkerung ist das billigste immer gut genug. Ob
es uns schadet, interessiert niemanden.“
Bis 1. Juli mussten die EU-Mitgliedsstaaten nationale Aktionspläne beschließen, wie sie Amalgam weiter reduzieren wollen. Schweden und Norwegen sind hier Vorreiter. Dort gilt schon seit zehn
Jahren ein absolutes Amalgamverbot. Deutschland folgt diesem Beispiel nicht. Die Bundesregierung verspricht lediglich, die Verwendung von Amalgam zu senken und den Einsatz auf unverzichtbare
Spezialfälle zu beschränken. Für alle, die nicht zu einer Risikogruppe gehören, bleibt Amalgam in Deutschland weiterhin die Regelversorgung. Trotz neuer EU-Verordnung scheiden sich beim Thema
Amalgam also weiterhin die Geister.
Reichenbach. Die Gründung der Selbsthilfegruppe Zahnmaterial-Geschädigte Reichenbach/Vogtland am Montag in Reichenbach hat eingeschlagen wie eine Bombe. Das hat jetzt Gruppenleiterin Ina Schiffler bestätigt. "Das Telefon steht seit der ersten Berichterstattung nicht mehr still", sagt die Reichenbacherin. Sie und Gertrud Rothacker aus Erlangen, die mit mehreren Selbsthilfegruppen im süddeutschen Raum erfolgreich arbeitet, haben damit die über das Vogtland hinaus erste Beratungsstelle für Menschen geschaffen, die einen Zusammenhang von Zahnersatz und teilweise erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen sehen.
Die Anrufe aus Freiberg, Chemnitz, Waldenburg und Co. beziehungsweise die Besuche der Auftaktveranstaltung, so das erste Fazit der Gruppenleiterin, zeichnet alle aus: "Die meisten Leute haben Angst, sich mit ihrem Leiden zu öffnen. Sie haben Angst, in die Psycho-Ecke abgeschoben zu werden", fasst Ina Schiffler zusammen und sieht damit auch treffend ihren eigenen langen Weg zur Erkenntnis bestätigt: "Die Leiden kommen vom Zahnersatz."
Doch nicht nur Patienten reagieren auf das neue Beratungsangebot. "Es haben sich auch Zahnärzte und Zahntechniker an uns gewandt", berichtet Ina Schiffler. Einem Zahnarzt sei unbekannt gewesen, dass es Menschen gibt, die auf im Bereich Zahnersatz auch verwendetes Kaliumdichromat allergisch reagierten. Das sei nur ein Beispiel. Gerade im weiten Feld der Kleber herrsche eine weitverbreitete Unkenntnis über die darin verwendeten Stoffe. Schuld seien die Hersteller, die sich nicht in die Karten schauen ließen.
Die Leidtragenden seien immer die Patienten, auch diese Erkenntnis sah Ina Schiffler am Montag bestätigt. Oft würden sie von Ärzten und Krankenkassen mit ihren Problemen alleingelassen. "Ich habe mit Frauen gesprochen, die haben geheult. Einer Frau mit offensichtlich vom Zahnersatz herrührenden Beschwerden hatte ein Arzt geraten, Allergietabletten zu nehmen. Er könne eh nicht helfen", berichtet die Gruppenleiterin und vermutet: "Wenn unser Eindruck nicht täuscht, dürften viele Hautärzte Zulauf bekommen. Denn viele wollen jetzt Allergietests machen.
Quelle: Freie Presse Reichenbach ( 08.10.2010 )